Montag, 24. Mai 2010

Schreib auf, was deine Augen sehen

[Valencia, Spanien]
Cola, Fanta, Agua, Cerveza fría! - Jeder kennt hier diesen Satz der immigrierten Straßenverkäufer zur Genüge.

Betritts du in einer großen spanischen Stadt die Straße, ganz egal wo und wann, wirst du nicht durstig bleiben müssen. Gegeben den Fall du hast ein wenig Kleingeld dabei...


Obwohl sie also im Prinzip einen Teil der örtlichen Infrastruktur darstellen begegnet den ausländischen Händlern niemand so wirklich wohl gesonnen:


"Natürlich kann man sich nicht mit diesen Leuten unterhalten. Die kommen ja auch irgendwo aus Timbuktu und können bestimmt weder Spanisch noch Englisch vernünftig sprechen. Nicht mal Manieren haben die. Hast du gerade den Ersten ab gewimmelt, oder erfolgreich ignoriert, kommt der Nächste angestürmt, um nun an sich zu reißen, was von deinen Nerven noch übrig geblieben ist."


So wird das System akzeptiert, sich hin und wieder beschwert, aber eigentlich ist es allen relativ Schnuppe.

Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass Straßenverkäufer mittlerweile genauso zur spanischen Kultur gehören, wie Paella, oder Torero. Sie sind bloß billiger...


Weil das kaum jemand zu bemerken scheint möchte ich gerne eine kleine Geschichte erzählen.

Sie handelt von einem senegalesischen Immigranten in seinen Zwanzigern. Nennen wir ihn Marietou. Aufgewachsen ist er in einer Farmergemeinde, umgeben von Familie und Freunden. Viel Arbeit gibt es im Senegal nicht, 48% der Bevölkerung müssen sich ohne Beschäftigung über Wasser halten. Doch man hat sich gegenseitig und das macht das Leben lebenswert. Trotzdem begeben sich viele der jungen Leute, die es mit einem Bevölkerungsanteil von über 60% im Alter 0-20 im Überfluss gibt, auf den Weg nach Europa. Dort wollen sie ein wenig Geld verdienen. Immer mit der Hoffnung die zurück gebliebene Familie so finanziell unterstützen zu können.


Auch Marietou sparte für eine lange Zeit, bis er es sich schließlich leisten konnte mit seinem Bruder und Neffen nach Valencia zu fliegen. Andere reisen auf überfüllten Fischerbooten. Todesopfer durch ertrinken sind dabei keine Seltenheit.


Auf spanischem Boden angekommen jedoch stand eine Überraschung für sie bereit. Ihr ständiges Lächeln wurde plötzlich nicht mehr erwidert. Schlimmer noch, es schaute keiner mehr in ihre strahlenden Gesichter.

Dass sie auf Dauer das Gesetz in diesem Land nicht duldet war ihnen nicht bewusst. Sie gaben an nur zu Besuch zu sein und verschwanden von der Bildfläche. Die erhoffte Arbeitsstelle war nunmehr, ohne jegliche Papiere, auf legalem Wege nicht mehr zu bekommen. Auch das hatte niemand geahnt.


Mit einer Menge Glück kamen sie durch die illegale Orangenernte über den Winter. Auch Spanier zahlen nicht gerne Steuern. Das wiederum missfällt vielen Bürgern, die sich ihrer Arbeitsplätze beraubt fühlen. Ein kontroverses Thema, besonders mit einer Arbeitslosenzahl, die sich um die 20% bewegt.

In vielen Fällen allerdings werden Immigranten auf Grund von einer fehlenden Arbeitserlaubnis abgelehnt.


Im Sommer werden nun kräftig Sonnenbrillen, Hüte und Handtaschen eingekauft. Marietou und die anderen machen sich damit zu den Mittelsmännern zwischen Händler und Tourist. Auch haben die Urlauber Probleme mit der Parkplatzsuche. Sie entgehen einer ganzen Menge Stress, wenn sie das den erfahrenen Afrikanern überlassen.

Am liebsten jedoch handelt Marietou mit Hand gemachtem senegalesischen Schmuck. Davon hat er einen ganzen Koffer voll mitgebracht...

Er lebt mit vielen seiner Landsleute in einem armen Viertel der Stadt. Andere jedoch ziehen sich in zerfallene, verlassene Häuser ohne Strom, oder sanitäre Anlagen zurück. Sind diese bis zum Rand gefüllt, so geht‘s an den Stadtrand. Dort werden aus Holz und Plastik traditionelle Hütten errichtet. Mittlerweile leben schon ca. 2000 Senegalesen in Valencia und ca. 36000 in Spanien insgesamt, aber wer weiß das schon genau...


Auf engstem Raum versuchen sie so wenig Geld wie möglich im Supermarkt zu lassen, um den Rest an die Familie da Heim senden zu können. Die bedeutet ihnen viel. So oft es geht ruft Marietou zu Hause an. Hin und wieder ein Hauch von Heimat.

Es gilt jedoch als Schande keiner geregelten Arbeit nach zu gehen. Die logische Folge daraus: Den Familien am Telefon wird von einem Land erzählt in dem Milch und Honig fließt und von einer zufrieden stellenden Arbeitsstelle. Im Senegal also weiß man nichts von der Verzweiflung in Valencia. Das natürlich führt zu einer immer weiter ansteigenden Immigration. Ein Teufelskreis.


Die meisten dieser Immigranten stehen also Tag für Tag auf der Straße.

Hier scheint Respekt nur von Seiten Gleichgesinnter zu kommen. Von den Ostasiaten zum Beispiel, die zwischen den Sonnenanbetern ihre Runden drehen, um hin und wieder eine Massage an den Mann bringen zu können. Dann sind da noch die Südasiaten, spezialisiert auf kühle Getränke für heiße Urlaubstage. Niemals würde Marietou einen Gedanken daran verschwenden in das Geschäft eines anderen ein zu steigen. Allen geht es schlecht und wenigstens unter sich wollen sie einen Zusammenhalt kreieren.


All das erzählt er mir gern und ausführlich. Er hat schnell spanisch gelernt und macht auch sonst einen sehr aufgeweckten Eindruck. Aufgeschlossen möchte er auch über meine Kultur mehr erfahren und bedankt sich mehrmals für das Gespräch. Normalerweise behandelt ihn kaum jemand besser als ein Tier, sagt er. Er möchte, dass ich seine Geschichte weiter trage und als er sieht, wie ich mir Notizen mache kommen seine weißen Zähne bei einem breiten Lächeln zum Vorschein: "Escribe lo que ven tus ojos [schreib auf, was deine Augen sehen]"

Und das tue ich. Auch noch als unser Gespräch abrupt unterbrochen wird.

"La policia, lo siento", sagt er und verschwindet zwischen den Palmen.

Zuvor hatte ich mich bei der Polizei erkundigt, wie auf die Situation reagiert würde. Bei so viel Einwanderern seien sie absolut machtlos und würden keine Maßnahmen gegen den Verkauf initiieren. Das wollte man mir jedenfalls glauben machen.


Kurze Zeit nach Marietous Verschwinden jedoch sehe ich zwei Polizeibeamte auf Quads über die Promenade rasen. Sobald sie einen der Verkäufer erwischen, wird dieser umkreist und zu aller erst eingeschüchtert. Seine Ware ist natürlich verloren.

Man nimmt seine Personalien auf und fordert er solle in kürzester Zeit das Land verlassen. Niemand allerdings hat die Mittel das zu überprüfen. Und keiner der Immigranten das nötige Geld dafür.

Die Polizei ist überall. Zu Fuß, im Wagen, auf Pferden, Rädern...

Rücksichtslos schlängeln sie sich durch die Menschenmassen und haben nur Augen für die mit etwas zu dunkler Hautfarbe gesegneten. Niemand wird fest genommen, oder angezeigt. Es scheint darum zu gehen Unsicherheit zu verbreiten. Das funktioniert ausgezeichnet.

Ich hatte die Möglichkeit mich mit vielen Mitgliedern von Marietous Familie und Freundeskreis auszutauschen. Alle haben Angst. Sie fühlen sich betrogen.

Sie wenden sich zum Urlaubsgüterhandel, um nicht auf Diebstahl zurück greifen zu müssen, sagen sie. Sehr leicht sei der Weg zur Droge und organisierter Kriminalität. Und die Polizei macht ihn leichter.

Desto schwieriger sich das Verkaufsgeschäft gestaltet, desto verlockender, und ironischer Weise sicherer, scheint die schiefe Bahn. Aus dieser Perspektive also sind die Bemühungen der Polizei nichts anderes als kontraproduktiv.


Das ist die Geschichte von Marietou. Marietou, der mir so unvoreingenommen begegnet ist und damit Vertrauen schenkt, wo keines hinzupassen scheint. Vielleicht Vertrauen darauf, dass wir irgendwann bemerken, dass hinter all diesen strahlenden Gesichtern eine Geschichte steckt - und ein Name.


Hand gemachter senegalesischer Schmuck mit Glasperlen, Muscheln, Echtleder und Ringen aus Fischzähnen.